Frühmorgens am Tag der Entscheidung …
Es war ein kalter Dezembermorgen, als ich dreißig Minuten vor Unterrichtsbeginn auf dem Schulgelände eintraf. Trotz der ungewöhnlichen Uhrzeit traf ich vor dem Ipi-Bau auf eine Gruppe gleichgesinnter Mitschüler*innen. Nur wenige sprachen miteinander. Ob dies auf die Temperatur, die Uhrzeit oder das kommende Ereignis zurückzuführen war, blieb offen, doch die Stimmung war eindeutig angespannt. Manch eine*r warf hastige Blicke auf einen Block oder Hefter, mich eingeschlossen, andere versuchten, im stillen Morgen ein wenig Ruhe zu finden. Dennoch waren unsere Erwartungen alle auf einen Nenner zu bringen. Dieser offenbarte sich, als uns plötzlich eine Stimme aus unseren Gedanken riss: „Ihr könnt jetzt reinkommen!“
Unsere Köpfe schnellten herum, und mit diesem Satz begann der Tag, auf den wir uns nun wochenlang im Deutschunterricht und privat vorbereitet hatten: Der Schulentscheid „Jugend debattiert“ an der Leibnizschule!
Lohnende Einführung in die Theorie der Debatte
Der bundesweit angelegte Wettbewerb schlägt sich bereits im Curriculum der 10. Klasse nieder. Nachdem man sich zuerst mit der Kriminal-Novelle „Unterm Birnbaum“ vergnügen durfte, bot die Möglichkeit zum Debattieren innerhalb des Deutschunterrichts für viele eine willkommene Abwechslung zu Fontanes dialektgetränkt-schleierhaft-mysteriöser Moralodyssee. Doch schnell wurde uns bewusst, dass das Debattieren weitaus tiefgreifender ist als simple Streitgespräche in der großen Pause oder auch so manche Sitzung des Bundestags. So befassten wir uns im Deutschunterricht hauptsächlich mit Kommunikationstheorie, hinterfragten, weshalb die Einbindung von Autoritäten in unsere Argumente deren Überzeugungskraft stärkt und vollführten einen Balanceakt zwischen Polemik und Faktizität, während uns nebenbei noch die Kunst des Verfassens von Eröffnungsreden gelehrt wurde. All dies, wenn auch zu Beginn etwas abschreckend, bot ein wichtiges Gerüst für den anschließenden Schulentscheid. So bietet die Debatte einen Raum der Interaktion, in dem alle Debattanten andauernd die eigene Position hinterfragen sollen. Meiner Auffassung nach ist es ein Garant für eine reflektierte Weltsicht, seine eigenen Meinungen und Gedankengänge ständig auf den Prüfstein des Diskurses zu stellen.
Gerade im Zeitalter von sozialen Medien, in dem es einfacher denn je ist, eigene Meinungen und Ideologien zu postulieren, ohne mit den Konsequenzen konfrontiert zu werden, ist das Debattieren eine Kommunikationsform, welche uns zeigt, dass eine schwarz-weiße Denkweise in keinster Weise realitätsgetreu ist. Dass die von uns geführten Debatten letztendlich so differenziert ausfielen, war durch die teils etwas geduldsfordernde Theoriesektion gesichert worden.
Los geht’s! Nach der Theorie folgt die Praxiserfahrung
In Erwartung tiefgründiger Streitgespräche im Klassenkreis forderte uns nun Frau Braun, die Deutschlehrerin der Klasse 10a, auf: „Denkt nach!“ Sie wollte wissen: Welche Themen beschäftigen uns? In welchen Situationen fällt es uns schwer, eine Position zu beziehen? Unter welchem Gesichtspunkt möchten wir unsere eigene Meinung möglicherweise auch prüfen?
Somit sammelten wir die verschiedensten Stichwörter und Streitfragen. Die ersten Übungsdebatten setzten sich mit der Forderung nach Mittagsschlaf an der Leibnizschule auseinander. Die Erkenntnis: Sogar ein vorerst geradezu amüsant erscheinendes Thema bot Grundlage für eine umfassende Debatte, was das Potenzial dieser Kommunikationsform verdeutlichte.
Auf die Übungsdebatten folgten umgehend die bewerteten Debatten, welche gleichzeitig als Klassenentscheid fungierten. Somit würden sie unsere Deutschnote prägen und uns das Tor zum Schulentscheid und zu den weiteren Stufen des Wettbewerbs öffnen. Die Themen reichten von der Legalisierung von Cannabis über das Verbot von Kurzstreckenflügen sowie der Frage zur legalisierten Sterbehilfe. Nachdem jede*r der Pro- oder Contra-Seite zugewiesen worden war, hatte ich die Aufgabe, Gründe gegen die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens zu recherchieren. Meine Mitdebattantin und ich einigten uns auf einen Argumentationspfad und schließlich kam es zum Tag der Debatte selbst. Andere Klassenmitglieder hatten bereits debattiert und im Anschluss an deren hitzige sowie seriöse Debatten, welche allesamt äußerst interessant und unterhaltend waren, kam ich an die Reihe. Umgeben von Mitschülern mit gezückten Bewertungsbögen sowie dem kritischen Blick Frau Brauns nahm die Debatte ihren Lauf. Wenn das für manche vielleicht wie ein Albtraum klingt, kann ich sagen, dass man als Debattant innerhalb einer interessanten Debatte das Publikum kaum bemerkt. In diesem Mikrokosmos, inmitten rasender Gedanken sowie einem andauernden Fakten- und Argumentenhagel, vergisst man leicht, dass man im Klassenraum sitzt.
Erst nach einer Woche, am Tag vor den Weihnachtsferien, wurden offiziell die Sieger*innen des Klassenentscheids verkündet. Ich freute mich sehr, einer der beiden Sieger*innen zu sein, doch stellte mich dies gleichzeitig vor die nächste Herausforderung …
Der "Jugend debattiert" Schulentscheid
Dies führt uns nun zurück zum Anfang des Artikels, nur inzwischen zu einem Januarmorgen, dessen schneidend-kalter Luft, zu aufgeregten Debattant*innen und dem entscheidenden Ruf aus dem IPI-Gebäude. So folgten wir der Stimme bis ins oberste Stockwerk. Wir sammelten uns mit den Juror*innen in einem der für den Wettbewerb umgestalteten Raum. Frau Braun und Frau Merker überreichten uns den Tagesplan, der drei fordernde Debatten anzeigte. Für manche wohl ein Aspekt der Vorfreude, für andere eine Bestätigung ihrer schlimmsten Befürchtungen. Während uns alle drei Streitfragen bereits vor den Ferien mitgeteilt worden waren, lag erst jetzt die Reihenfolge fest, die Zuordnung unserer Mitdebattant*innen und die Positionierung für Pro oder Contra.
Kaum war die Streitfrage klar - ob erneut ein verpflichtendes soziales, politisches oder ökonomisches Jahr in Deutschland eingeführt werden sollte -, verlor ich keine Sekunde und begab mich als Verfechter des sozialen Jahres zur 15-minütigen Vorbereitung. Glücklicherweise hatten wir im Zweierteam ähnliche Ideen und Fakten recherchiert, was unserer Zusammenarbeit sehr zugutekam. Während der ersten Qualifikationsrunde vor den Juror*innen der Jahrgangsstufe sowie Frau Merker, mit Glocke zur Zeitüberwachung ausgestattet, entstand dann aus unseren vorbereiteten Argumenten eine dichte Debatte. Schnell überwanden wir die Nervosität und der Fokus richtete sich immer stärker auf die gegenüberstehenden Debattant*innen. Mit dem Ton der Glocke endete die letzte Abschlussrede, wir verließen erschöpft den Raum, die Juror*innen besprachen die Punkte. Wir waren ratlos: Niemand vermochte einzuschätzen, ob er oder sie gut, schlecht oder mittelmäßig debattiert hatte. Wir erwarteten die zweite Qualifikationsrunde in der Kälte des Pausenhofes. Fünfzehn äußerst kurze Minuten später sammelten wir uns erneut im zweiten Stock des IPI-Gebäudes. Die zweite Qualifikationsrunde sollte sich mit der Streitfrage befassen, ob ein halbjähriges Praktikum zwischen der 5. und der 10. Klasse eingeführt werden solle. Jetzt stand ich auf der Contra-Seite.
Die Debatte verlief deutlich entspannter. Situation und Rollen waren nicht mehr so fremd wie noch am Morgen. Dann folgte der erneute Gang auf den Hof, erneut herrschte eine Mischung aus Euphorie und Spannung. Sicher war, dass wir jetzt unsere Leistungen nicht mehr verändern konnten. Sie würden über unseren Eintritt in die letzte Debatte, die Finalrunde des Schulentscheids, entscheiden. Dass danach die Teilnahme am Regionalentscheid winken könnte, machte die Spannung nicht kleiner.
Als wir (gespannt) vor die Jury (sehr entspannt) gerufen wurden, hielt ich die Luft an. Die Juror*innen würdigten das erfolgreiche Absolvieren der Qualifikationsphase des Schulentscheids und gaben uns individuelle Rückmeldung. Wir traten ins Rampenlicht, die hilfreichen und netten Worte der Juror*innen boten eine Möglichkeit zur Verbesserung, auch wenn man der Finaldebatte möglicherweise nicht aktiv beiwohnen würde. Nachdem Herr Pfeifer und Frau Rosenkranz auf den Zeitplan verwiesen hatten, kam es endlich zur Verkündigung der sich für die Finalrunde qualifizierten Debattant*innen:
Merle, Fanni, Clara und ich würden die Finalrunde des Schulentscheids bestreiten. Inmitten vieler Gratulationen baute sich bereits die Spannung vor der letzten Herausforderung dieses ereignis- und emotionsreichen Tages auf.
Endlich ist es so weit – Die Finaldebatte geht los!
Nur die ersten drei Plätze würden danach am Regionalentscheid teilnehmen dürfen, dies war uns allen bewusst. Jede*r von uns wollte äußerst ambitioniert und interessiert um einen dieser Plätze kämpfen. Jetzt betrat Frau Uhling neben Herrn Pfeifer den Raum zur Aufsicht und wirkten als mentaler Ruhepol. Sie verteilten Getränke sowie Süßigkeiten, als das letzte Thema und die Positionierungen verkündet wurden. Nun stand nur noch ein Thema zur Auswahl: Sollte das Schulfach Glück an hessischen Schulen eingeführt werden? Gemeinsam mit Merle debattierte ich gegen die Einführung des Faches Glück. Dieses Mal erschien mir die Vorbereitungszeit ungewohnt lang, geradezu zäh. Endlich begann die finale
Debatte. Es zeigte sich direkt, dass ich gegen Schülerinnen debattierte, die den Einzug in die Finaldebatte verdienten. Es fiel Argument um Argument. Ich empfand die Debatte als äußerst intensiv, alle waren extrem involviert und ambitioniert. Neben gründlichst recherchierten Fakten brachten wir eigene Erfahrungen ein und am Ende der Debatte wurde mir bewusst, dass es keine*n eindeutige*n Sieger*in geben würde. Diese Debatte war ein gemeinsames Werk, welches nicht in der Wahl eines/einer Gewinner*in widergespiegelt werden konnte. Erleichtert gratulierten wir uns gegenseitig, während sich die Juror*innen zur Bewertung zurückzogen.
Die folgenden Minuten vergingen in Form leiser Privatgespräche. Minute folgte auf Minute, eine halbe Stunde verging, die Tür zur Jury war immer noch zu. Die Bewertung dieser Debatte schien schwierig zu sein.
Stolze Sieger*innen
Schließlich, nach geschlagenen 45 Minuten, kehrten die Jurorinnen Sophie Bourgeon, Debora Mengiste und Marija Velemir unter erwartungsvollen Blicken in das Klassenzimmer zurück. Zuerst wurden Teilnehmerurkunden für die Debattant*innen der Qualifikationsrunde sowie für die Juror*innen verteilt.
Daraufhin merkten die Juror*innen an, dass eine Entscheidung zur Verteilung der Teilnehmenden auf Podiumsplätze geradezu unmöglich gewesen sei und letztlich auf minimalen Differenzen basierte. Den vierten Platz nahm schließlich Merle Schiemenz ein, daraufhin folgte Clara Lopez als Stellvertreterin, während Fanni Dupont mit dem 2. Platz und ich auf dem 1. Platz als feste Debattant*innen am Regionalwettbewerb teilnehmen würden. Ich vermag immer noch nicht die Unterschiede zwischen uns erkennen – aber ich war glücklich über das Resultat des Schulentscheids.
Somit stehen Fanni, Clara und ich nun vor der nächsten Herausforderung, dem Regionalentscheid. Ich blicke der nächsten Runde optimistisch entgegen. Sei es als Teilnehmer auf einem der vorderen Plätze, sei es auch nur die Erfahrung der Teilnahme. Die Möglichkeiten, die „Jugend debattiert“ bietet, bleiben vielfältig und fordernd. Ganz nach dem Motto: Nach der Debatte ist vor der Debatte! Wie der Regionalentscheid verlaufen ist, erfahrt ihr in Kürze an dieser Stelle.
Quelle für das "Jugend debattiert" Logo: https://www.jugend-debattiert.de/ Quelle für die Icons: <a href="https://www.flaticon.com/free-icons/team-work" title="team work icons">Team work icons created by DinosoftLabs - Flaticon</a>, <a href="https://www.flaticon.com/free-icons/teamwork" title="teamwork icons">Teamwork icons created by DinosoftLabs - Flaticon</a>, <a href="https://www.flaticon.com/free-icons/trophy" title="trophy icons">Trophy icons created by DinosoftLabs - Flaticon</a>