Nachspüren: Eröffnung der Ausstellung

Zuhören, fragen, gestalten:
Leibnizschule würdigt ihre einst vertriebenen jüdischen Mitschüler

Sechs Namen, sechs leidvolle Schicksale sind dokumentiert und ans Licht gebracht. Die jüdischen Schüler, die in den 1930er Jahren aufgrund der Politik der Nationalsozialisten und ihrer Unterstützer die Leibnizschule verlassen mussten, haben am Freitag in einer Gedenkveranstaltung im Foyer des Gymnasiums den Respekt erhalten, den sie damals schmerzlich vermisst haben.

Ab jetzt erinnern Gedenktafeln und eine beeindruckende Kunst-Ausstellung dauerhaft an ihre Lebenswege und regen täglich die Schüler der heutigen Schule zu Gesprächen an. Besonders dankbar war die Schulgemeinde für den Besuch zweier Zeitzeugen, die den Terror der Ausgrenzung und Vernichtung selbst erlebt haben. Otto Schiff ist ist ein freundlicher Mann. "Ich mag Höchst, mein Vater mochte Höchst auch sehr gern", erzählt der 97-Jährige am Rednerpult. In seinem Rücken hängt ein Schwarz-Weiß-Foto an der Wand, das ihn als Jugendlichen zeigt. Daneben ist seine Geschichte in wenigen Sätzen zu lesen. "Ich war sehr gerne Schüler hier. Die Geschichte hätte anders weitergehen können", fährt er fort. Er musste aufgrund der Rassenideologie der Nazis in der 7. Klasse auf das Philanthropin im Nordend wechseln, hatte feindselige Ablehnung durch Mitschüler erlebt. Im letzten Moment gelang es der Familie, die bis 1938 das Kaufhaus Schiff an der Königsteiner Straße führte, in die USA zu flüchten.

Dort wurde Schiff ein erfolgreicher Ingenieur und lebt noch heute mit seiner Frau in Kalifornien. Otto Schiff macht keine Vorwürfe, das hat er bei keinem seiner Besuche in Höchst getan. Stattdessen ist er einfach da und freut sich. Das spüren auch die Schülerinnen und Schüler, die um ihn herumsitzen und ihm gebannt zuhören. Ein Teil von ihnen - der Kunst-Wahlunterrichtskurs von Andrea Mihm - hat sich ein Jahr lang mit seiner und fünf anderen Biographien beschäftigt. "Wir hatten im Rahmen der Jubiläumsvorbereitungen für die Schule festgestellt, dass ihre Geschichte nie wirklich recherchiert worden war", erinnert Andrea Mihm in ihrem Grußwort. Eine erste Erwähnung in einer Chronik aus dem Jahr 2001 warf mehr Fragen auf, als dass sie Antworten gab: "Was ist hier passiert? Wer und wieviele waren sie? Mit welchen Mitteln wurden sie der Schule verwiesen?" Die Schüler machten sich auf die Spurensuche - in Archiven, bei Zeitzeugen, im Keller der Schule. Große fachkundige Unterstützung bei allen historischen Recherchen fanden sie bei Waltraud Beck und Helga Krohn von der Höchster AG Geschichte und Erinnerungen. Ziel ihres Projektes "Nachspüren" war das Sammeln von Alltagsgegenständen, die das Einfühlen in das Erleben der Verfolgten ermöglichen sollten. Dass ihnen das gelungen ist, zeigen berührende Kunstobjekt, die im Lauf des Jahres unter der künstlerischen Begleitung der Frankfurter Grafikerin Leonore Poth entstanden sind: So zeigen jetzt Graphic Novels - gezeichnete Bildergeschichten -, szenisch gestaltete "Bühnen" in Schuhkartons, sowie ein symbolisch gepackter Koffer einschneidende Momente im Leben von Herbert Holzmann, Berthold Baum - dessen Bruder Albert die Schule besuchte -, Otto Schiff, Manfred Marx, Lothar Ludwig Salomon und Theodor Rosenfeld.

Während Herbert Holzmann in einem Arbeitslager mit Tuberkulose-Bakterien infiziert wurde, unter denen er sein Leben lang leiden würde, erlebte Berthold Baum, wie sein Vater, einst ein angesehener Metzgermeister in Höchst, enteignet wurde. Dann wurde Baum ins Konzentrationslager Buchenwald geschickt, von wo aus er dank gefälschter Ausreisepapiere in die USA fliehen konnte.
Die Kunstobjekte sind ausgestellt im Foyer der Schule, das laut Schulleiterin Sabine Pressler nun nicht mehr nur ein Ort des Durcheilens sondern des Innenhaltens und des Dialogs sei. "Seit die Ausstellung hier zu sehen ist, stehen die Schüler davor und diskutieren", hat sie beobachtet. Die Hoffnung und das Ziel der Schule sei, sie "im Widerschein der Kunstobjekte die Mechanismen von Ausgrenzung und Rassismus spüren zu lassen und sie zur Verantwortung an der Gestaltung einer humanen Welt zu erziehen."

Wie Ausgrenzung heute funktioniert, führen Schülerinnen und Schüler den Gästen in einer szenischen Darstellung vor Augen (Leitung Yvonne Bertelmann). "Du Lauch!" ist das scheinbar lustige Schimpfwort, das sie einem sanften Mädchen in steigender Lautstärke und wachsender Anzahl entgegenschleudern. Bis es verzweifelt zusammenbricht. Nur langsam bewegen sich Einzelne aus der ablehnenden Masse auf es zu, zeigen Mitgefühl, setzen sich zu ihm, bis sich die Wand aus willkürlicher Verachtung und Freude an der Erniedrigung aufgelöst hat und das zutiefst verunsicherte Mädchen (Sophie Bourgeon) wieder in der Mitte der Mitschüler sitzt. Welche Spuren ihre Spurensuche bei ihnen außerdem hinterlassen haben, zeigen auch Erfahrungsberichte der teilnehmenden Schüler in der Publikation zum Projekt "Nachspüren": "Wir konnten uns ein Bild davon machen, wie die Juden unter grausamen Umständen leben mussten und wie sie versuchten, sich ,über Wasser' zu halten", schreibt Finn Dannenberg. Für Isabelle Galster war wichtig zu erfahren, "welche verzweifelten Versuche die Juden machten, um dem Tod zu entkommen und wie sie sich dabei fühlten." Viel Wissenswertes hätten sie über die Zeit des Nationalsozialismus erfahren, alles sei anschaulich erklärt worden. Sie liebten die Verbindung von Geschichte und Kunst. Und würden die Begegnung mit Zeitzeugen wie Eva Szepesi "nie vergessen".

Die gebürtige Ungarin ist zur Projektpatin geworden, als sie den Schülern der Jahrgangsstufe Neun im vergangenen Jahr ihre Geschichte erzählte. Sie hat als Jugendliche das KZ Auschwitz überlebt, war bei der Befreiung durch die Russen mehr tot als lebendig. Beim Festakt erlebt sie mit ihren Töchtern Judith und Anita, was sie durch ihr mutiges Erzählen in den Heranwachsenden ausgelöst hat. Sie erlebt hier, dass die jüngste Generation ihre Botschaft gehört hat und weitertragen wird. Zeitzeugen wie Eva Szepesi und Otto Schiff haben ihnen eine Hand gereicht, um sie in ein anderes Morgen - "vers d'autres lendemains" - zu führen. So singt es der Chor unter der Leitung von Jeannine Görde in dem Lied "Vois sur ton Chemin" von Bruno Coulais. Ein Morgen der Mitmenschlichkeit und des Aufstehens gegen Ausgrenzung.

Vor den Bildern und Gedenktafeln, die Eva Szepesi mit Andrea Mihm enthüllt, ergeben sich anschließend Gespräche in einem bunten Gemisch aus Englisch und Deutsch, die Schüler fragen viel und freuen sich über die Anerkennung. Vor allem die Fragen der Kinder sind es, die auch der Künstlerin Leonore Poth in Erinnerung bleiben werden. "Während wir gebastelt und gemalt haben, haben sie oft gefragt, was sie nicht verstanden hatten", erzählt sie, die weit mehr ins Projekt eingebracht hat als künstlerisches Know-How. Sie äußert Respekt vor den Schülern, die neugierig und offen gewesen seien, in Teams Graphic Novels gestaltet und innere Hemmschwellen bei der Umsetzung der Ideen überwunden hätten.Die Schülerinnen und Schüler werden das Erfahrene weitertragen, täglich auf dem Schulhof, aber auch öffentlich, am 9. November, bei der Veranstaltung zum Gedenken an die Zerstörung der Höchster Synagoge im Jahr 1938, zu der die AG Geschichte und Erinnerungen am Höchster Ettinghausenplatz jedes Jahr einlädt. "Ich freue mich sehr, dass sie dort von ihrem Projekt berichten werden", sagt Waltraud Beck.

Die Leibnizschule dankt ganz besonders dem Pädagogischen Zentrum des Fritz Bauer Instituts und desJüdischen Museums Frankfurt, sowie dem Programm für Kulturelle Bildung des Kulturfonds Frankfurt RheinMain und schließlich dem Verein zur Förderung der Leibnizschule in Frankfurt-Höchst - und damit unseren Eltern - für die großzügige finanzielle Unterstützung, die das Jahresprojekt erst ermöglicht hat.

Die Publikation "Nachspüren. Jüdische Schüler an der Leibnizschule. Eine künstlerische Spurensicherung" ist für 15 Euro auf amazon erhältlich.

Das Projekt erfuhr inzwischen noch eine weitere Ehrung. Im März 2019 zeichnete die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit GJZ Main-Taunus das Nachspüren-Projekt mit dem Erich-Rohan-Preis aus. Während der Woche der Brüderlichkeit sprach das Kuratorium allen Projektbeteiligten einen ersten Platz zu.