Die Hoffnung hilft zu überleben – Begegnung mit “Train Kids” in Mexiko und dem Jugendbuchautor Dirk Reinhardt

Im Roman ist es Nacht. Rund 100 Jungen und ein paar Mädchen ducken sich an der Böschung, oben verläuft das Bahngleis, an das sie ihre Hoffnung knüpfen. Es könnte sie wieder ein paar Kilometer näher an ihr Ziel bringen, die USA. Dort arbeiten viele ihrer Mütter, um die Familie in Guatemala oder El Salvador zu ernähren. Die Jugendlichen fliehen vor der Armut, der Perspektivlosigkeit und vor Banden in ihrer Heimat. „Diese Kriminellen suchen unerbittlich jede Familie auf, die einen Sohn hat“, erklärt Dirk Reinhardt, Autor von Jugendromanen und Journalist, bei einer Lesung für die neunten Klassen der Leibnizschule. „Ihre Botschaft ist klar“, fährt er fort, „entweder der Junge schließt sich der brutalen Bande an – oder er wird nicht alt werden.“

Der Schriftsteller beschreibt in seinem Roman „Train Kids“ das Schicksal dieser Jugendlichen, ihre

lebensgefährliche und verzweifelte Flucht durch Mexiko nach Norden, aber auch ihren ungeheuren Mut und ihre Zuversicht, die Solidarität. „Sie denken oft zuerst, sie müssten es alleine schaffen“, hat Reinhardt bei seinen wochenlangen Recherchen vor Ort erlebt. „Aber alle schließen sich schnell in Gruppen zusammen.“ Denn nicht nur Banditen überfielen die schutzlosen Wanderer, wenn sie im Freien übernachteten, sondern auch die Polizei gehe oft brutal gegen sie vor. Nur in der Gruppe könne einer wachen, während die anderen schliefen.

Zurück am Bahngleis. Ein Zug naht. Endlich. Vor der Brücke muss er abbremsen. Das ist die Chance, um aufzuspringen. Die Jungen kauern in höchster Anspannung im Dunkeln. Sie wissen: Nur für wenige von ihnen ist Platz. Die Lok rollt heran. Sprinten, springen, nach den nassen Metall-Leitersprossen greifen, nur der Erste wird es schaffen, andere rutschen ab, fallen nach hinten oder geraten unter die Räder der tonnenschweren Waggons.

Im Roman haben die Schülerinnen und Schüler Fotos gesehen von denen, die einen Platz ergattert haben und auf die Dächer der Waggons gepresst, durch engste Tunnels, heiße Wüste, kalte Gebirgslandschaft, eine Strecke mitfahren. "Haben Sie die Fotos selbst geschossen?", fragt jemand. "Nein, die hat mir ein mexikanischer Journalist zur Verfügung gestellt", gibt Reinhardt unumwunden zu. "Ich war an der Böschung, aber ich habe gesehen, dass es lebensgefährlich ist, selbst aufspringen zu wollen." Er berichtet auch, wie er sich nach dem Start in einem sicheren Touristen-Resort ein Netz von Kontakten im Land aufgebaut hat: Journalisten, Politiker, Kirchenleute. Er war anschließend in einem kleinen Leihwagen unterwegs. "Ich habe immer jemandem gesagt, wo ich hinfahren will und mich alle zwei bis drei Stunden per Handy bei meinen Bekannten gemeldet."

Ob er nicht ein paar Jungs und Mädchen im Auto hätte mitnehmen können, will ein Schüler wissen. "Ich hätte so gerne mehr geholfen", gibt Reinhardt zu. "Aber auf den Straßen wurde man alle paar Kilometer von der Polizei kontrolliert. Wir wären alle verhaftet worden, die Flüchtenden, weil sie illegal im Land sind, und ich als Schleuser." Es sei schwer für ihn gewesen, zu 14- oder 15-Jährigen erst Kontakt aufzubauen und sie dann wieder ihrem Schicksal überlassen zu müssen. "Das waren schlimme Momente beim Abschied. Ich weiß nicht, ob sie überleben, ob sie es schaffen, ob ich sie wiedersehe." Was er tun konnte, habe er getan: "Ich habe mit ihnen gesprochen, sie mit Essen und Verbandszeug versorgt, habe ihnen mein Handy geliehen, damit sie sich bei der Familie melden und ihr sagen konnten, sie lebten noch."

Mit seinem Roman über vier dieser Jungs und ein Mädchen, der sich abenteuerlich und spannend liest, der aber eine schreckliche Realität spiegelt, mit diesem Text macht Reinhardt auf ihr Schicksal aufmerksam und weckt Verständnis für ihre Flucht. Glaubwürdig wirkt sein Bericht in Zeiten von Fake News, weil er sich darin nicht als Held darstellt, sondern realistisch vorgegangen ist und auch auf seine eigene Sicherheit geachtet hat. "Sind Sie berühmt?", möchte eine Zuhörerin wissen. Reinhardt, dessen Miene selten verrät, was in ihm vorgeht, schmunzelt. "Ich bin nicht berühmt im Sinne eines Bloggers oder Schauspielers", antwortet er. "Mein Gesicht kennt man nicht." Aber er könne inzwischen von seinen Romanen leben, zumal "Train Kids", aber auch "Die Edelweißpiraten" als Lektüren in Schulen gelesen würden. Auch hier wirkt er ehrlich: "Ich habe zehn Jahre als Journalist gearbeitet und parallel Romane geschrieben, zuerst habe ich aber eine Absage nach der anderen von Verlagen für meine Manuskripte kassiert." Jetzt aber sei er glücklich. So wird deutlich, dass auch Dirk Reinhardt auf seine Weise keine Mühen gescheut hat, wie die "Train Kids", in der Hoffnung, sein Ziel zu erreichen.

Fotos: Kathrin Zeiske (oben), Buchcover Gerstenbergverlag.