Ein weißes Pavillondach im großen Hof der Leibnizschule schützt die kleine Truppe vor der ungewöhnlich warmen Herbstsonne, kunterbunte Zahlen am Dachrand zeigen das Jahrzehnt an, in dem sie Abitur gemacht haben: 1980.
Viele andere Gäste des Ehemaligenfests anlässlich des 175-jährigen Schuljubiläums sitzen unter kleineren Abi-Jahreszahlen, bringen dafür aber mehr Lebensjahre mit zu diesem Rückblick in die Vergangenheit. Waren sie gern an der Schule? Wer war der beste, wer der schlimmste Lehrer? Was erkennen sie noch wieder? “Es riecht genauso wie früher”, meint Wolfgang Schulz, Abi ’66, mit erstaunter Miene. Und noch erstaunlicher sei, dass sich “eigentlich nichts verändert hat.” Während von der Bühne ein Teil des Schulorchesters für die Gäste Klassik spielt, schwärmt Schulz von seiner Zeit in der New Orleans-Schulband. “Trompete, klassisch” hat dagegen sein ehemaliger Mitschüler Wolfgang Hönsch gespielt. Er ist Steuerberater geworden und durchreist heute die ganze Welt. “Arzt”, “Anwalt”, “Arzt”, “Lehrer” sind die Antworten, die reihum fallen, fragt man nach den gewählten Berufen. Aus der Reihe fällt nur ein Diplom-Geograph, der für den Deutschen Entwicklungsdienst nach Westafrika ging. Aus der Reihe fällt ebenfalls ein fremdes Wesen namens Ilona – das einzige Mädchen des 66er Jahrgangs. Man habe sie angemailt, sie sei heute leider verhindert. Das leise Bedauern, das hier mitschwingt, weckt Ahnungen, welche Bedeutung Ilona einst auf diesem Schulhof hatte.
Sie breiten Schwarz-Weiß-Fotos auf den blauen Lacktischdecken aus, lächeln vergnügt, suchen Namen zusammen. Wolfgang Ellwitz hat alte Schülerzeitungen aus den 80ern beim Aufräumen gefunden und einige mitgebracht: “Gottfried Wilhelm” steht da auf vergilbtem Papier, ein Popper ziert als Karikatur die Teilseite. Preis: 50 Pfennige. Und als Horst Tröster seinen Super-8-Filmprojektor auspackt, das vertraute leise Rattern ertönt und ein Film von 1970/71 über die Wand des Ipi-Baus läuft, ist der Raum gefüllt mit älteren Herren. Das Video über die Leibnizischule aus dem Jahr 1963, das sogar auf youtube zu sehen ist, beeindruckt anschließend durch die akrobatischen Fähigkeiten der damaligen Sportschüler – es besuchten nur Jungen die Leibnizschule. Doch auch sie grinsen heimlich, wenn der Lehrer sich zum chemischen Versuch wegdreht und scheinen trotz ordentlicher Hemdkragen unterm Pullover zu ganz anderen Dingen fähig. Zum Glück. Als die Protagonisten von damals grüppchenweise wieder in die Sonne hinaustreten, wirken sie nachdenklich, in sich gekehrt. Der Blick zurück weckt gemischte Gefühle.
Diesen verleiht jedoch die Musik, die inzwischen von der Bühne erklingt, schnell wieder eine Prise Leichtigkeit. Willi Weimer, langjähriger Mathe- und Physiklehrer an der Leibnizschule, hat seine Band gewinnen können, für die ehemaligen Schüler und Lehrkräfte zu spielen. Besser gesagt, eine seiner drei Bands. Als Jazz-Schlagzeuger ist Weimer gefragt und sucht immer wieder neue musikalische Herausforderungen, während seine Frau, Angelika Röhrer, als pensionierte Deutschlehrerin inzwischen Flüchtlinge in Deutsch unterrichtet. Das Reisen scheinen sich diese beiden trotz der Befreiung aus dem Korsett der Schulferien-Termine nicht zum Hobby gewählt zu haben.
Wer hat die Schüler wirklich geprägt? Und wie ist das gelungen? “Von manchen Lehrern weiß man noch einzelne Sätze, bei anderen müsste ich überlegen, ob ich sie überhaupt hatte”, resümiert ein Pensionär. “Anna Sittig” sei so eine Lehrerin gewesen, die in Erinnerung geblieben ist. Sie unterrichtete Englisch und Französisch, organisierte den Austausch ins französische Chambéry (Savoyen). “Vom ersten Tag an sprach sie nur Französisch mit uns und machte einen total modernen Unterricht, in dem wir sehr viel gesprochen haben”, erzählt Georg Schäfer, der Richter geworden ist. Den “tollen Medieneinsatz” von Religionslehrer Hans Höckel loben andere: “Er brachte einen Schallplattenspieler mit, um uns eine Platte mit russisch-orthodoxen Gesängen vorzuspielen.” Gelächter am Tisch, bis die Kaffeetassen wackeln. Wie Donnerhall klingt noch heute der Name des Deutschlehrers Franz Daniel Schild von Spangenberg. Sein Limit an Lockerheit auf der Klassenfahrt nach Überlingen am Bodensee sei erreicht gewesen, als er das Hemd über der Hose trug.
Seltsam empfinden alle im Rückblick, dass der Geschichtsunterricht stets in den 1930er Jahren endete. “Irgendwie waren dann immer Ferien und wir machten nicht weiter”, so ein Ehemaliger. Umsomehr Anklang finden die Ausstellung und die Gedenktafeln zum Schicksal der sechs jüdischen Schüler, die in der 30er Jahren die Leibnizschule aus ideologischen Gründen verlassen mussten. Die Schau ist seit wenigen Wochen im Foyer der Leibnizschule zu sehen und entstand aus einem einjährigen Projekt mit Schülern.
Dass die Herren Leibnizschüler auch heute noch anpacken können, zeigt sich, als an diesem Festtag ein Baum gepflanzt wird – ein Ahorn. Zwar witzeln die Akademiker, wer denn eine Schaufel richtig herum halten könne, doch am Ende steht er fest und wartet auf Wasser. Die Birke, die wenige Meter weiter mächtig das Schuldach überragt, hat einst der Abi-Jahrgang ’66 gepflanzt. Sie war damals nicht einmal mannshoch und hat sich jahrzehntelang still weiterentwickelt. Wie ihre Spender.
Sie wirken zufrieden mit dem, was ihnen ihre Schule mitgegeben hat. Viele sind dabei, die freundlich zuhören, andere stechen aus der Menge hervor – wie der Läufer Joachim Eigenherr, der bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt im Halbfinale Europarekord lief und sich fürs Finale qualifizierte. Doch diese Geschichte soll ein anderes Mal erzählt werden.
Großer Dank gilt den Lehrerinnen Yvonne Bertelmann und Petra Hofmann, die das Fest organisierten und gemeinsam mit Schulleiterin Sabine Pressler in Holzkarteikästen und Mail-Listen nach Kontakten zu Ehemaligen suchten, den Schülerinnen und Schülern der Klassen 9d und 9f, die den Auf- und Abbau stemmten, den Kunstschülern um Andrea Mihm, die die bunten Jahrgangszahlen kreierten und nicht zuletzt dem Förderverein mit seiner Vorsitzenden Claudia Gau, der das Fest – wie viele andere Events im Jubiläumsjahr – großzügig finanziell, organisatorisch und praktisch unterstützt hat – gemeinsam mit hilfsbereiten Eltern, die für die Bewirtung und Gesprächsgelegenheiten sorgten. Karl von Thümen für die Moderation und Thomas Winter, der mit Willi Weimer das Fest in Musik gebettet hat. Dank schließlich auch an alle, die ihre Kontakte aktiviert und weitere Gäste zum letzten Fest im großen Jubiläumsjahr eingeladen haben.